Geschichte
Pop Brut ist ein Kunstbegriff, der erstmals 2003 in Zürich auftauchte, als der Künstler ZanRé seine Arbeiten in einem Tattooshop (Worlds End) so benannte. Unabhängig davon, organisierten Milk+Wodka unter dem gleichen Namen eine erste Gruppenausstellung in der Galerie 16B. Es dauerte noch ein paar Jahre bis man zusammenfand.
Zwischenzeitlich haben ZanRé und Alain Kaiser gemeinsam eine Pop Brut Ausstellung in der Macelleria d’Arte in St Gallen bespielt. Kurz darauf wurden die beiden an die für Zürich kunsthistorisch bedeutende und vielbeachtete Ausstellung Wahnwelt-Wellen 1955-2015 ins Art Dock eingeladen. Wo sie als Vertreter der dritten Generation, der vom Schriftsteller Paul Nizon benannten Kunstrichtung «Zürichs Schule der kleinen Wahnwelt» von einem grösseren Publikum entdeckt wurden.
Mit Marlis Spielmann fand man die ideale Ergänzung um das gesamte Spektrum der Pop Brut in einer ersten gemeinsamen Ausstellung zu zeigen (art333, 2017). Die Künstlergruppe Pop Brut ward geboren!
Definition
Pop Brut – populäre rohe Kunst, ist ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst jenseits etablierter Formen und Strömungen, die sich eingehend mit einer naiven, nichtakademischen Ästhetik beschäftigt.
– Pop Brut basiert auf der Idee, bestimmte populäre Elemente aus ihrem ursprünglichen Kontext zu isolieren und sie mit persönlichen Visionen zu sublimieren.
– Pop Brut versteht sich als Reaktion auf die betont intellektuelle zeitgenössische Kunst.
– Pop Brut zeichnet sich durch eine subversive Haltung aus, welche die Abgründe einer scheinbar perfekt kalkulierten Wohlstandsgesellschaft kritisch reflektiert.
– Pop Brut ist eine, alternative Kunstform, welche die alltägliche Realität der Menschen mit ihren ureigenen Ängsten und Obsessionen verbindet.
– Pop Brut-Werke bewegen sich auffallend häufig im Spannungsfeld von Sexualität und Religion. Ihnen haftet dadurch eine der zeitgenössischen Kunst für gewöhnlich fremde, spirituelle Dimension an.
– Pop Brut– Künstler sind meist gesellschaftlich peripher angesiedelt und reagieren niemals auf Markterwartungen.
– Pop Brut stellt für die beteiligten KünstlerInnen die einzige Überlebensstrategie dar (Zitat ZanRé: Ich mache Kunst aus Notwehr!).
Stilistische Merkmale
Pop Brut verbindet Themen der populären Massenkultur (Pop art) mit Elementen marginalisierten künstlerischen Ausdrucksformen (Art brut) und destruktiven, satirischen und anarchischen Inhalten der Dada- Bewegung. Des Weiteren bestehen Nahtstellen zum Fantastischen Realismus, Surrealismus, Comicstrip, Punk, Street Art, Outsider Art, Visionary art …
Die Spielarten des Pop Brut sind vielfältig. Kunstwerke aus Alltagsgegenständen, Abfall, Scherenschnitte und Druckgrafik, Collagen und Assemblagen, Objekte und Installationen. Hier sind keine Grenzen gesetzt – jedes Medium ist Willkommen. Pop Brut-Künstler sind auch als Musiker, Schriftsteller und anderswie schöpferisch tätig.
Der Pop Brut-Künstler fordert, dass alle Formen rein und klar definierbare Gegenstands-Elemente sein müssen. Die Formen sind bei einigen Künstlern wie in Comic-Heften mit Outlines (schwarzen Linien) umrandet. Typisch für Pop Brut-Kunstwerke ist die Einarbeitung von Schriftelementen.
Oft sind die dargestellten Gegenstände plakativ gehalten. Pop Brut verwendet gerne triviale Stielelemente und bedient sich der gesamten Farbskala, meist grell und klar.
Ein weiteres Kennzeichen der Pop Brut ist der Horror vacui (Scheu vor der Leere). Dabei wird die gesamte Zeichenfläche mit Darstellungen und/oder Ornamenten ausgefüllt. Wie auch die künstlerische Variante des Messie-Syndroms, des alles Aufhebens und Wiederverwertens zum Kunstwerk.
Pop Brut sucht nach Wurzeln, nach Authentizität, will ausgelebte Neurosen und artistische Obsessionen blühen sehen. Ein Sammelbecken unentdeckter und nicht-klassifizierbarer Kunst der Neuzeit sein. Die Künstler müssen eine starke Verbindung mit der eigenen Kreativität entwickelt haben und ihr Werk soll ein überwältigendes und komplexes Repräsentations-System ihrer Schöpfungskraft bezeugen, sowie kraftvoll und einzigartig sein.
Das entscheidende Kriterium zur Begutachtung eines Werkes von Pop Brut– Künstler ist nicht in erster Linie die kunsttheoretische Relevanz, sondern die emotionale Wirkung des Kunstwerks, die Art, wie dieses den Betrachter in Schwingungen versetzt.
Abgrenzung
Im Gegensatz zur Pop Art, richten die Pop Brut- Künstler ihr Augenmerk nicht auf die glamourösen Seiten der urbanen Zivilisation (Stars und Luxus), sondern auf das Verbrauchte und Ausgesonderte, das Unkonventionelle, Untergründige, Schräge, Böse oder Erschreckende. Diesem verleihen sie eine „neue pathetische Relevanz“. Pop Brut ist im Gegensatz zur Art brut keine „Bildnerei von Geisteskranken“ wie sie etwa im Künstlerhaus Gugging bei Wien oder durch La Tinaia in Florenz vertreten wird.
Wie in der Dada- Bewegung ist Ironie, Spott und Humor ein zentrales Pop Brut-Merkmal. Aber: Pop Brut bedient sich einer klareren, verständlicheren Sprache – direkter und weniger theoretisch ausgerichtet.
Kunstkritische Anlehnungen
Roberta Smith, Kunstkritikerin der New York Times, prägte den Begriff der „konzeptuellen Aussenseiter“. Mit ihm lässt sich unter anderem die konzeptionellen Mono-Manien der Pop Brut-(Ein Abstand zu viel) Künstler beschrieben, die wie besessen mit einem bestimmten Medium arbeiten und dadurch mit ihrer Kunst eine komplett eigene Welt erschaffen.
Wegbereiter
Pop Brut sieht sich durchaus im Geiste von Jean Dubuffet der mit dem Surrealisten André Breton 1947 in Paris die Compagnie de l’Art brut gründete. Deren Ziel war es, alternative Kunst zu fördern und zu sammeln. Wie zum Beispiel jene von Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz und anderer. Im Jahr 1949 im Rahmen der Ausstellung L’art brut préferé aux arts culturels definierte Dubuffet die Art brut als Kunstform abseits der erstickenden „kulturellen Künste“. Und damit unmissverständlich, dass Art brut nicht per se mit psychopathologischen Schöpfungen gleichzusetzen ist: „Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken.“
Kunst jenseits etablierter Kunstformen entstand bereits viel früher in den Werken von Arcimboldo, Goya, Hieronymus Bosch und in den Skulpturen im Parco dei Mostri der Villa Orsini in Bomarzo.
Das „Pop“ von Pop Brut leitet sich von der Independent Group (IG) ab. Ein Vorläufer der Pop Art-Bewegung. Die Gruppe trat erstmals im Jahr 1952 in London auf. Während des ersten Treffens der IG stellte Eduardo Paolozzi eine Serie von Collagen mit dem Namen Bunk! vor. Er hatte sie zwischen 1947 und 1949 in Paris geschaffen (Notabene in den Jahren als Debuffet seine Compagnie de l’Art brut gründete). Diese Collagen wurden durch „gefundene“ Objekte wie Werbungen, Charaktere aus Comicbüchern, Zeitschriftentitelbilder und andere grafische Arbeiten der Massenproduktion geschaffen.
Das erste Kunstwerk, welches das Wort „Pop“ beinhaltete, war ebenfalls eine Collage von Paolozzi, „I was a Rich Man’s Plaything!“ (1947). In diesem Werk ist eine Rauchwolke aus einem Revolver zusehen, auf der das Wort „Pop“ geschrieben steht.
Als eine ironische Variante zum Pop prägten 1963 vier Düsseldorfer Künstler – Gerhard Richter, Sigmar Polke, Konrad Lueg und Manfred Kuttner – für ihre gemeinsame Ausstellung in einem verlassenen Düsseldorfer Ladenlokal den Begriff Kapitalistischer Realismus.
Zürich, Mai 2017, ZanRé
Weblinks: Marlis Spielmann / Alain Kaiser / Milk + Wodka / ZanRé
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