Der Koloss am Fluss

Oktoberbesuch in Attisholz

Text: Richard Bolli (28. Oktober und 12. Dezember 2016)

Enten schnattern unter krummen Weiden am Emmenkanal. Durch Schilf und Schachtel­halm flattern Amseln und Zaunkönige. Dann öffnet sich der Blick. Die Aare würde hier noch breiter und langsamer fliessen, wären am Nordufer nicht die Mauern, die das Wasser ablenken, hinter denen die alte Cellulose-Fabrik steht.

Der Turm, wie ein erloschener Leucht­turm, wacht sinnlos über die zwei eisernen Nabelschnüre, die von der Fabrik über den Fluss führen. Was hergestellt wurde, konnte hier in diesen Mengen offenbar niemand brauchen. Eisen­bahn­wagenladung über Eisenbahnwagenladung rollte hinaus über den Fluss.

Drinnen im Fabrikhof hätte ein Güterzug Platz. Fast unvorstellbar, dass dieser Koloss einer Ruine noch vor acht Jahren Leben geatmet hat. Nun krallen sich eben gerade entstandene Drei-Monats-Kunstwerke an zerbröckelndes Mauerwerk, lehnen sich aus Fenstern, besiedeln Hallen, zwingen Wände zu lautem Protest, der ziemlich stumm bleibt. Die kreativen Kräfte bäumen sich mit umwerfender Imagination grandios hilflos auf. Sehen so Wiederbele­bungs­versuche an einem Grabstein aus?

Es geschieht eine gruselig-spielerische Verarbeitung einer Zeit, deren Taktarten (als der Motor noch lief wie geschmiert) viele Kunstschaffende, da zu jung, selber nicht erlebt haben. Doch sie spüren, was sich abgespielt hat in diesem verwinkelten Riesenkerker.
Dass niemand wenigstens eine Wand gesprengt hat? Ein paar Scherben, zersägte Eisen­stücke, ein zerschla­gener Lampen­schirm, zersplitterte Stühle, das sind die wenigen sichtbaren Trümmer handfester Auseinander­setzungen.

Inzwischen krallt sich die feuchte ätzende Luft, der Kunst gleich, alles, was im Kerker nach Freiheit schreit. Der Riese bleibt ein Riese. Der Riese bleibt. Er braucht die Kunst nicht. Sie aber hofiert ihn weiter. Schmeichlerin. Und macht, dass sich dieser alte Koloss verwandelt in eine gruselige Erinnerung an Heute.

Verstörend der Gang durch Gänge, Treppenschluchten, Kammern, Korridore und Hallen. Du weisst: Hier haben Hunderte von Menschen gearbeitet, jeden Tag, mit und ohne Licht. Und glaubst es kaum: Gerne. Sagen die, die ein Tonband nicht ohne Stolz besprochen haben. «Muesch jo naimed s’Gäld verdiene!» Was für eine Rede! Wollte wer den Koloss sprengen? Nein? Nein.

Hundertdreissig Jahre industrieller Grössenwahn sind jetzt reflektiert, inszeniert, zelebriert, angemalt und übermalt. Fürs Erste. Schon stehen neue Farben, Putze und Pläne bereit für die alten Mauern.
Ja, es wird noch gruseliger: Der Riese erneuert sich. Wiederbelebung dem­nächst hier – also doch! – als Campus und Wohnparadies. Egal was es ist, egal ob jemand oder wer dieses es will, es soll weiterbrummen. Hier. Oder dort. Egal. Wieder. Weiter. Überall.
Schau hinüber zur Wiese am Südufer des Flusses! Da wächst gerade der nächste Koloss heran. Es bleibt ziemlich viel Zeit bis zum nächsten Kunst-Intermezzo.

Zurück ans unbebaute Ufer der Aare. Gelbes Herbstlaub auf dem Helsanapfad (ich versichere dir: der heisst so). Gleich geht es mir besser.

kettenreaktion.jetzt / blog

Ein Kommentar

  • […] die er eingeladen hat, sind bis auf Ana Vuijc alles Bekanntschaften, die er an der Kettenreaktion 16 gemacht hat. Von daher ist es auch nachvollziehbar, dass diese Bezüge zu Street Art, Wandmalerei […]

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