Der Strumpfwirker Rudolf Schmidt wurde obwohl er eine tüchtige Arbeitskraft war, von der Strumpf – und Wirkwarenfabrik Franz Schiman in Atzgersdorf wegen Reduktion des Betriebes entlassen. Als er in seine Souterrainwohnung, 16. Bez., Baumeistergasse 20, kam, sah er, dass in seiner Wohnung nichts mehr zu verkaufen war.
Es waren nur mehr die Betten für ihn und seine Frau, für seinen zehnjährigen Buben Bertold und sein dreijähriges Mäderl Ingrid, Tisch und Sessel und sonst gar nichts.
Da wurde er so müde, dass er den Kampf ums Dasein aufgab. Um das letzte Geld kaufte er eine Flasche Wein. Mann und Frau tranken sie aus und dann schleppten sie die Matratzen in die Küche, legten sich mit ihren Kindern darauf, drehten den Gashahn auf und erwarteten den Tod.
Vormittags kam der Gaskassier und klopfte vergeblich. Da er Gasgeruch verspürte, holte er die Polizei, die in die Wohnung eindrang. Die kleine Ingrid und ihr Bruder Bertold waren bereits tot, Schmidt und seine Frau lagen in tiefer Bewustlosigkeit. Sie wurden in das Wilhelminenspital gebracht. Man könnte fast wünschen, dass den Eltern das furchtbare Erwachen erspart bliebe.
Wiener Zeitung Nr. 257 // 18.Sept. 1936 // Verfasser unbekannt
Fundstück von der Recycling-Sammelstelle
ps1: Strumpfwirker: Fabrikarbeiter, der an der Strickmaschine Strümpfe, Socken, Hosen, Handschuhe etc. aus Schafwolle, Baumwolle, Seide oder Leinengarn herstellte.
ps2: Eine Zeitungsnotiz dieser Art hat übrigens, nebst vielen anderen Schriftstellern, Gottfried Keller zu seiner Tragödie „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ inspiriert.
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